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--------------------------------------------------- [copyright (c) by Dr. Klaus Graf] English abstract: Klaus Graf: "Medievalism, courtly culture of remembrance and retrospective tendencies" The lecture on "medievalism, courtly culture of remembrance and retrospective tendencies" takes into account the contemporary notion of memory "gedachtnus" - an early modern-german term. This concept or idea was chiefly propagandized by the german Emperor Maximilian I. The close relation between retrospective antiquarianism (or monument conservation) and retrospective cult of glory (or monument raising) is stressed. After a brief look at historical elements in the culture of feasts the various media of memory which documented the ancestral pride are pointed out. Two manuscripts (from the Eptingen family and from the family of the Preckendorfer) can illustrate this "invention of tradition" by nobles. Finally, a picture of the history of noble collecting and aristocratic family antiquities is drawn. Facing continual cultural losses by house sales the paper ends with an address to the community of scholars not to tolerate these losses silently in the future. -- Auf der Tagung "Das Mittelalter in der Fruehen Neuzeit" des Rudolstaedter Arbeitskreises zur Residenzkultur hielt ich am 4.10.2001 folgendes Referat, das vielleicht auch hier von Interesse ist. WWW: <http://www.uni-potsdam.de/u/geschichte/landesgesch/arbtagu2.htm> Klaus Graf: "Mittelalter-Rezeption, hoefische Erinnerungskultur und retrospektive Tendenzen" Das lateinische Wort "monumentum", italienisch "memoria" oder "monumento", bedeute auf deutsch: "Ein gedaechtnuss zeichen, etwas das uns von eines vergangen dings erinneret, ein gedaechtnuss" - so das in Basel 1579 gedruckte siebensprachige Woerterbuch des Ambrosius Calepinus (S. 954). "Memoria" wird ebenfalls mit "gedaechtnuss" übersetzt (S. 922). Das von mir herangezogene Exemplar des Buchs stammt uebrigens aus einer kaum erforschten hochadeligen Buechersammlung. Es traegt den Besitzvermerk der Grafen Georg und Froben von Helfenstein, Freiherren von Gundelfingen aus dem Jahr 1582 und befand sich bis vor kurzem in der seit 1999 auf Auktionen zerstueckelten Fuerstlich Fuerstenbergischen Hofbibliothek. Da sich keine Institution der oeffentlichen Hand um einen Erwerb aller in Donaueschingen erhaltenen Buecher der Grafen von Helfenstein aus dem 16. und fruehen 17. Jahrhundert bemueht hat, habe ich den Band selbst ersteigert. Die Donaueschinger Hofbibliothek als ueber Jahrhunderte gewachsene Sammlung laesst sich mit Fug und Recht als kulturhistorisches Monument und Kulturdenkmal bezeichnen. Vorlaeufer des modernen Denkmalbegriffs war der Begriff "monumentum", der im 16. Jahrhundert nicht nur von Calepinus mit "gedaechtnuss" uebersetzt wurde. Heute meint Denkmal zweierlei: zum einen das Gedaechtnismal, das die Erinnerung an eine Person oder ein Ereignis wachhalten soll, zum anderen ein erhaltenswuerdiges historisches Objekt, das nachtraeglich zum Kulturdenkmal deklariert wird. Der Quellenbegriff "Gedechtnus" aber verband beides, gestiftete Erinnerung und bewahrte Erinnerung, zukunftsorientierte Denkmalsetzung und vergangenheitsorientierten Denkmalschutz. Als prominentes Beispiel kann das Gedechtnus-Konzept Kaiser Maximilians I. herangezogen werden, das der Germanist Jan-Dirk Mueller wie folgt buendig umschrieben hat: "Gedaechtnus meint erstens liturgische memoria [...], religioese Stiftungen und Gebetsdienst, bedeutet zweitens die ueberhoehende Darstellung der eigenen Taten in Text und Bild fuer die Nachwelt. Hier beruehrt sich M[aximilian]s Intention mit dem humanistischen Gedanken ewigen Nachruhms in den Werken der Dichter und Kuenstler. Gedaechtnus heisst drittens Sicherung und Erneuerung historischer Ueberlieferung aller Art [...]. Viertens geht es um Fixierung aller moeglichen Wissensbestaende im Umkreis von Regiment, Hof und fuerstlichem Haus." Der Begriff Gedechtnus bezieht sich also sowohl auf das eigene Andenken, adressiert an die "Posteritaet", als auch auf die Altertuemer der Vergangenheit, die als pietaetvoll zu achtende Erinnerungsbotschaften der Vorfahren verstanden werden. Fuer das hier vorgeschlagene Konzept der vormodernen Erinnerungskultur, verstanden als Ensemble von Erinnerungs-Medien, ist die auf Jan Assmann zurueckgehende Unterscheidung der retrospektiven und der prospektiven Dimension des Erinnerns von fundamentaler Bedeutung. In der Zeit um 1500 - die wichtigste epochale Zaesur fuer die Erforschung der Erinnerungskultur und der retrospektiven Tendenzen - etablierte sich ein neues Modell des Gedenkens, das beide Dimensionen eng aufeinander bezog. So korrespondierte mit der antiquarischen Pflege der Numismatik in der Renaissance die Verbreitung der kuenstlerischen Praxis der Portraetmedaille, die das eigene Abbild verewigen sollte. Antike Inschriften wurden nicht zuletzt deshalb studiert, weil man aus ihnen Vorbilder fuer die Sicherung ewigen Nachruhms entnehmen wollte. Wer sich mit fruehneuzeitlicher Mittelalter-Rezeption beschaeftigt, ist somit gut beraten, die prospektive Verewigung, das Streben nach Nachruhm - gloria oder fama - nie aus dem Auge zu verlieren. Maximilian revitalisierte in den Jahren nach 1500 gleich drei antike Typen des prospektiven Denkmals: das Reiterdenkmal, das Mausoleum und den Triumphbogen. Ich gehe hier nur auf das bei St. Ulrich und Afra in Augsburg geplante Reitermonument ein, ueber das sich zuletzt Franz Bischoff in seiner Engelberg-Studie geaeussert hat. Es war eine prospektive Verewigung mit deutlichem retrospektivem Akzent, denn eine spaetere Augsburger Quelle berichtet, dass Maximilian den Standort gewaehlt habe, weil St. Ulrich aus dem Geschlecht der Grafen von Kyburg herzuleiten sei, die der Herrscher als seine Vorfahren muetterlicherseits kannte. 1494 hatte der Augsburger Kanoniker Matthaeus Marschall von Pappenheim fuer die Moenche einen am Grab des hl. Ulrich angebrachten Stammbaum der Familie des Klosterpatrons, also der Grafen von Dillingen und Kyburg, entworfen. Die Benediktiner von St. Ulrich und Afra waren besonders geschichtsbewusst, sie erforschten damals frueh- und hochmittelalterliche Handschriften und haben beim Neubau ihrer Klosterkirche wohl bewusst altertuemliche Formen gewaehlt. Da mir die herkoemmliche Bezeichnung "Klosterhumanismus" unzutreffend erschien, habe ich fuer die Rueckbesinnung der Moenche auf die eigene Tradition den Begriff "monastischer Historismus" vorgeschlagen. Matthaeus Marschall aber war um 1500 einer der drei gelehrten Sammler, die man vielleicht als die Gruendervaeter der modernen Genealogie ansprechen darf. Die beiden anderen, der Wiener Kanoniker Ladislaus Suntheim und der Jurist Jakob Mennel, erstellten ihre Sammlungen zu adeligen Genealogien im Auftrag Maximilians. Maximilian habe sich in Augsburg als Nachfolger des hl. Ulrich darstellen lassen, vermutet Bischoff. Es lohnt aber auch, die Saetze von Tilmann Falk in seiner Burgkmair-Monographie zur historischen Verortung dieses Monuments zu zitieren: "Wie die retrospektiven Tendenzen in den kuenstlerischen Auftraegen Maximilians zuweilen zu historisierenden Werken fuehrten [...] kann es auch hier der Rueckblick auf die nationale Vergangenheit mit sich bringen, dass die Konzeption des Augsburger Denkmals den mittelalterlichen deutschen Reiterbildern [Bamberger und Magdeburger Reiter] verwandter erscheint als zeitlich nahestehenden italienischen Monumenten. Mit voller Absicht ist wohl auch am Sockel die klassische Antiqua, die man haette erwarten koennen, durch L[eonhard] Wagners Rotunda als einer 'deutschen' Schrift ersetzt. Der Gedanke der 'renascentis imperii gloria', im deutschen Humanismus von der Regierung Maximilians erhofft, nimmt sich weniger das antik-roemische als das Heilige Roemische Reich deutscher Nation in seiner Bluete zum Vorbild und erstrebt fuer Maximilian die Machtfuelle eines hochmittelalterlichen Kaisers" (73). Fuer das Augsburger Reiterdenkmal darf jedenfalls behauptet werden: Historisch-genealogische Forschung, wahrscheinlich verbunden mit formalem Rueckbezug auf hochmittelalterliche deutsche Vorbilder, und prospektive Verewigung gingen Hand in Hand. Ein bedeutsames Feld hoefischer Erinnerungskultur war das Festwesen. Feste verlangten nach Erinnerung, Festbeschreibungen sollten das Gedaechtnis an das glanzvolle Geschehen wachhalten. Der prospektiven Verewigungspraxis korrespondierte nicht selten der Einsatz historisierender Elemente, die auf Vergangenes anspielten. Maximilian kam auch hier eine Schluesselrolle zu. Zum Jahr 1494 vermerkt der Wormser Ratsherr Reinhart Noltz, bei der Huldigung der Wormser vor der "Neuen Muenze" habe der Koenig einen Kranz auf dem Barett getragen, der genauso wie der gemalte Kranz der Kriemhild an der Neuen Muenze ausgesehen habe. Kurz zuvor waren an diesem staedtischen Gebaeude Gemaelde zur Nibelungenthematik angebracht worden. Mit einem Accessoir erwies sich der Herrscher, fuer den ja auch anderweitig ein intensives Interesse an der heldenepischen Ueberlieferung und ihrer Bewahrung dokumentiert ist, als Liebhaber alter heroischer Geschichten. Ein Jahr spaeter schrieb Maximilian bei den Belehnungen der Fuersten auf dem Wormser Reichtag den einzelnen Lehenstraegern genau vor, in welchem Gewand sie zu erscheinen hatten - heraldische Ordnung, die jedem den ihm gebuehrenden Platz zuwies und als ueberzeitlich gueltig gedacht wurde, war dem Koenig wichtig. Aus einer von Claudia Schnitzer in ihrem bedeutsamen Buch ueber "Hoefische Maskeraden" juengst aus Dresdener Archivalien publizierten Quelle ueber Mummereien Maximilians geht hervor, dass bei einer solchen unter der Verkleidung eine weitere getragen wurde, die als altfraenkisch bezeichnet wird. Man hat also bewusst einen Verfremdungseffekt durch das Tragen einer altertuemlichen, unmodernen Kleidung angestrebt. In der Holzschnittfolge von Maximilians "Triumphzug" erscheinen in der Mummereiabteilung Vermummte in zwei Gliedern; die einen trugen spanische Gewaender, die anderen "kurtz Rocklein auf alt Swebisch" - es wurde somit auf eine alte schwaebische Bekleidungssitte Bezug genommen. Eine zusammenfassende Darstellung historischer Rueckgriffe in der fruehneuzeitlichen hoefischen Festkultur steht noch aus. Ich nenne hier nur noch ein mitteldeutsches Beispiel aus dem 18. Jahrhundert: Im Schlosspark von Sondershausen stellte man 1728 zehn illuminierte Pyramiden bei dem festlichen Hoehepunkt, dem Nachtschiessen, beiderseitig der Allee auf, die den beruehmten Traegern des schwarzburgischen Leitnamens Guenther gewidmet waren, beginnend mit Guenther I., einem angeblichen Zeitgenossen Kaiser Heinrichs I., ueber den Gegenkoenig Guenther XXI. bis hin zu Guenther XLI. im 16. Jahrhundert. Auf Feldern der Pyramiden wurde modernes Kriegsgeraet solchem aus der Zeit des Dargestellten gegenuebergestellt. Ich muss es mir versagen, auf das fuer das adelige Selbstverstaendnis des spaeten Mittelalters wie der fruehen Neuzeit so wichtige Turnierwesen, fortgesetzt in den Ritterspielen der fruehneuzeitlichen Hoffeste, einzugehen. Das Turnierbuch des Herolds Ruexners mit seiner Reihe erfundener Turniere seit dem 10. Jahrhundert kann geradezu als genealogisch-historische "Bibel" des deutschen Adels bezeichnet werden. Ebensowenig kann ich die Wiederanknuepfung an mittelalterliche Traditionen des Rittertums in den fruehneuzeitlichen Ritterorden behandeln. Mit dem Fest- wie dem Militaerwesen eng verwandt war die hoefische Jagd, die seit der Zeit um 1500 eine charakteristische Erinnerungskultur ausgebildet hat. Sie ist fassbar in dem Trophaeenkult, in Jagd-Ereignisbildern, die genau fixierten Jagden galten, Jagd-Andenken und Schiessregistern oder Jagd-Tagebuechern. Da diesen Zeugnissen aber, soweit ich sehe, der retrospektive Aspekt der Mittelalterrezeption fehlt, koennen sie hier lediglich angefuehrt werden, um die Bedeutung der Zaesur um 1500 einmal mehr zu unterstreichen. Ein unueberschaubares, noch kaum durch vergleichende Studien bestelltes Feld oeffnet sich, wenn man sich die ganze Breite der Erinnerungsmedien vergegenwaertigt, die mit dem aristokratischen Ahnenkult und der Genealogie in Verbindung stehen. Da sind zum einen die dem Historiker vertrauten schriftlichen Quellen, retrospektive Familienchroniken wie prospektive Kinderverzeichnisse und autobiographische Notizen, nicht selten im Ueberlieferungsverbund mit Aufzeichnungen zur Wirtschaftsfuehrung. Auf der anderen Seite stehen die Bilder und Zeugnisse der materiellen Kultur, gemalte Ahnenproben und Stammbaeume, Grabmaeler und Epitaphien, nicht zu vergessen die wappengeschmueckten Textilien, die Wandbehaenge und Kissen. In welchem Umfang in den visuellen Quellen historisierende Details auftreten, die auf fruehere Stilformen oder Kleidungen verweisen, ist derzeit noch weitgehend unerforscht. Ein bekanntes Beispiel ist die 1567 von Kurfuerst August von Sachsen errichtete Grablege der Wettiner auf dem Petersberg bei Halle, ein bemerkenswertes Zeugnisses seines dynastischen Selbstverstaendnisses. Das Kenotaph seiner hochmittelalterlichen Vorfahren verbindet moderne Renaissance-Formen mit archaisierenden Reminiszenzen mittelalterlicher Sepulkralplastik. Historische Treue ist freilich nicht die oberste Maxime, denn die den Figuren beigegebenen Wappen sind gaenzlich unhistorisch. Schon im 1500 bis 1546 entstandenen "Saechsischen Stammbuch" waren die Vorfahren teilweise mit antiquierter Kleidung dargestellt worden, die sich an der hoefischen Mode des spaeten Mittelalters orientierte. Dass schon die Zeitgenossen des 16. Jahrhunderts historisierende Trachten wahrgenommen haben, belegt eine Notiz aus einem 1579 entstandenen Werk des wuerttembergischen "Historicus" David Wolleber, der sich offenbar auf eine in Owen befindliche, inzwischen nicht mehr vorhandenen Stammtafel der im 15. Jahrhundert erloschenen Herzoege von Teck bezog. Erhalten ist das frueher in der Stuttgarter Kunstkammer befindliche Exemplar, dessen Inhalt dem Antiquar Andreas Ruettel dem Juengeren zugeschrieben werden kann.Wolleber sagt, die Herzoege von Teck seien in Owen mit "iren allten haidnischen Claidunngen und Wappen" abkonterfeit. Heidnisch wird hier als Gegensatz zur eigenen Mode aufgefasst. Ausklammern moechte ich die retrospektiven Tendenzen in der fruehneuzeitlichen Schlossarchitektur, die in der juengeren Forschung wiederholt Beachtung gefunden haben. Ich verweise exemplarisch auf die Studie von Stephan Hoppe zum Guestrower Schloss, die im Untertitel "Beobachtungen zum 'Historismus' und zur 'Erinnerungskultur' im 16. Jahrhundert" verspricht. Wie man sich im 16. Jahrhundert eine mittelalterliche Burg vorstellte, zeigt nicht nur das bekannte Extrembeispiel des Niederalfinger Fuggerschlosses aus den 1570er Jahren, sondern auch die Reihe der Burgenmodelle im Kunstgewerbe des 16. Jahrhunderts. Ich moechte darauf verzichten, auf das methodisch hoechst schwierige Verhaeltnis zwischen einer aesthetischen Formengeschichte retrospektiver Tendenzen und dem Konzept einer geschichtswissenschaftlich akzentuierten Erinnerungskultur, wie ich es hier vorgeschlagen habe, einzugehen und verweise auf meinen Beitrag zur Tagung "Wege zur Renaissance" in Koeln vor einer Woche, der bald auch im Internet nachzulesen sein wird WWW: <http://www.uni-koblenz.de/~graf/retro_r.htm>. Wiederholen moechte ich lediglich, dass ich nichts davon halte, mit Hilfe des reduktionistischen Vorschlaghammers "Legitimation" und einer oberflaechlichen Lektuere der historischen Literatur politische und sakral motivierte Bezugnahmen auf Aelteres aus der Formengeschichte des Retrospektiven herauszubrechen. Die adelige Traditionsbildung der fruehen Neuzeit war durchsetzt mit Fiktionen, die Kontinuitaet fingieren und ein altehrwuerdiges Herkommen demonstrieren sollten. Der Begriff "Herkommen" kann als Leitbegriff des aristokratischen Geschichtsverstaendnisses in der fruehen Neuzeit und als einer der Vorlaeufer des modernen Geschichtsbegriffs gelten. Ich moechte die Erfindung von Traditionen ("invention of tradition") anhand von zwei Handschriften veranschaulichen. In den letzten Jahren haben Historiker mehrfach dankbar auf das von Dorothea Christ edierte Familienbuch der Herren von Eptingen, das in einer reich illustrierten Handschrift aus dem Jahr 1627 vorliegt, zurueckgegriffen und es als faszinierende und weitgehend singulaere Quelle zur spaetmittelalterlichen Adelskultur, fuer Heraldik und Turnierwesen gewuerdigt. Viel zu wenig beachtet wurde, dass hoechst unsicher ist, welche Texte tatsaechlich aus dem Ende des 15. Jahrhunderts stammen und was auf das Konto des spaeteren Redaktors geht. Man muss ernsthaft mit der Moeglichkeit rechnen, dass dieser Texte Hans Bernhard von Eptingen (gestorben 1484) und seinem Bruder Ludwig nachtraeglich zugeschrieben hat. So ist beispielsweise die Datierung der ausfuehrlichen Ursprungserzaehlung der Eptinger, die sich vom roemischen Geschlecht Catilinas ableiten wollten, vorerst offen. Eindeutig beweisbar ist die Fiktion eines mittelalterlichen Herkommens bei einer merkwuerdigen literarischen Traditionsbildung der oberpfaelzischen Familie Preckendorfer, die im 19. Jahrhundert durch Ludwig Rockinger ans Licht befoerdert, von der modernen Forschung aber nicht weiter beachtet wurde. 1609 wurden in eine Schwabenspiegelhandschrift des 15. Jahrhunderts Stellen einer verlorenen aelteren Pergamenthandschrift aus dem 13. Jahrhundert eingetragen, die nach authentisch wiedergegebenen mittelhochdeutschen Versen dem bekannten Ritter Ruediger Manesse von Zuerich aus dem 13. Jahrhundert gehoerte. Problematisch ist lediglich der ebenfalls kopierte Besitzvermerk, mit dem sich offenbar im 16. Jahrhundert die Preckendorfer in die Geschichte des Pergamentcodex fiktiv einschmuggelten. In Ich-Form bezeugt ein Heinrich der Preckendorfer, das Buch von einem Zuericher Ritter und Buerger erhalten zu haben, als er 1264 bis 1268 in Diensten Graf Rudolfs von Habsburg stand. Auf der Rueckseite des betreffenden Blatts befand sich eine Miniatur dieses Heinrich mit seinem Wappen, die ihn in Ruestung vor einem Kruzifix kniend zeigt. Die darunter befindlichen Verse verweisen ebenfalls in Ich-Form auf Heinrichs Kriegstaten und berufen sich - wie schon der Besitzvermerk - abschliessend auf ein von ihm verfasstes "raysbuch", also eine Aufzeichnung ueber seine Kriegstaten. Genealogische Aufzeichnungen aus dem Ende des 16. Jahrhunderts ueber die Preckendorfer in einer anderen Handschrift kennen die beiden angeblich auf Heinrich zurueckgehenden Texte ebenfalls. Im Besitz der Preckendorfer war eine dritte Handschrift mit Konrads von Megenberg "Buch der Natur" (Cgm 38), in die Familiennotizen des Geschlechts eingetragen wurden und die offenkundig das gleiche Bild wie die verlorene Pergamenthandschrift enthaelt, einen knieenden Ritter vor dem Kruzifix. Nur wird es in der Megenberg-Handschrift als Darstellung eines Stefan von Preckendorf mit beigegebener Jahreszahl 1389 ausgegeben. Hypothetisch moechte ich annehmen, dass in der zweiten Haelfte des 16. Jahrhunderts im Umkreis der Preckendorfer versucht wurde, etwas ueber den in der Pergamenthandschrift genannten Ritter Ruediger Manesse herauszufinden.Wohl anhand gedruckter Werke zur Schweizergeschichte unternahm man es, den angeblichen kriegserfahrenen Vorfahren Heinrich in die Geschichte Rudolfs von Habsburg zu interpolieren und ihm ein literarisches Werk ueber eine Kriegstaten zuzuschreiben. Gleichsam visuell beglaubigt wurde diese Traditionskonstruktion mit einer Miniatur, die auf einen spaetmittelalterlichen ikonographischen Typus zurueckgreift. Wie sich retrospektive Mittelalter-Rezeption und prospektive Sicherung des Andenkens im 17. Jahrhundert verbunden haben, zeigt der eichelfoermige Pokal aus vergoldetem Silber, der als Pittener Eichel bekannt ist. Eine im 16. oder fruehen 17. Jahrhundert angebrachte Inschrift weist ihn als Geschenk des Matthias Corvinus an den Pittener Burghauptmann Wolf Teufel aus, der 1485 durch Vortaeuschung von Nahrungsmittelueberfluss den Abbruch der Belagerung erlangt habe - ein verbreitetes schwankhaftes Erzaehlmotiv. Die Familie Teufel, 1563 in den Freiherrenstand erhoben, verwendete das spaetmittelalterliche Trinkgefaess als Willkomm.1672 wurde zur Eichel ein Gaestebuch angelegt, das ihre Geschichte erzaehlte und in dem sich die Besucher, die aus ihr tranken, mit Unterschriften und meist auch Devisen verewigten. Beweisbar ist die inschriftlich bezeugte Familienueberlieferung nicht. Der Verdacht liegt daher nahe, dass man die Geschichte nachtraeglich erfunden hat. Das aristokratische Gaestebuch der fruehen Neuzeit ist ein Seitenstueck zu dem in der akademischen Sphaere im 16. Jahrhundert geschaffenen Erinnerungsmedium des Stammbuchs oder "album amicorum". Mitunter hat man auch aufwendig illustrierte mittelalterliche Handschriften fuer Gaesteeintragungen verwendet, wohl weil ihr Status als Familienaltertum dauerhafte Bewahrung versprach. Das Stichwort Familienaltertum verweist auf das noch viel zu wenig erforschte Gebiet des adeligen Sammelwesens. Fruehneuzeitliche Kunst- und Wunderkammern dienten immer auch als eine Art Familien-Museen, in denen sich Erinnerungsstuecke an die Angehoerigen des Geschlechts vorfanden. Nicht selten hat man Kunstsammlungen wie schon im Mittelalter die sogenannten Hauskleinodien mit der Rechtsfigur des Fideikommiss zum unveraeusserlichen Vermoegensbestand erklaert - eine dynastische Vorform modernen Kulturgutschutzes. In adeligen Sammlungen begegnen natuerlich auch Werke aus dem Mittelalter, doch lassen die Inventare ein klares Epochenbewusstsein vermissen.Was vor der eigenen Gegenwart lag, wurde undifferenziert als "altfraenkisch" oder "altvaeterisch" etikettiert, beispielsweise im Inventar des Jakob Tapp auf Churburg 1563. Die Suedtiroler Churburg hat sich uebrigens bis heute als einzigartige Schatzkammer der Adelskultur des Mittelalters und der Renaissance erhalten. Familienbezogene Ausstattungsstuecke, vielfach mit Wappen geschmueckt, wurden im Lauf der Zeit zu traditionellem Familienbesitz, zu Familienaltertuemern. Ahnengalerien erkundeten retrospektiv die Vergangenheit und hielten prospektiv die Mitglieder der Familie fuer die Nachwelt fest. Angesichts immenser Ueberlieferungsverluste sollten heutzutage noch erhaltene Reste adeliger Schlossausstattungen, adeliger Kunstsammlungen und adeliger Bibliotheken als unersetzliche Kulturdenkmale eigentlich sakrosankt sein - die Realitaet sieht voellig anders aus.1995 hat Sotheby's die wunderbare Kunstkammer der Markgrafen von Baden auf einer vielbeachteten Auktion zerschlagen, und alle paar Monate werden gewachsene Schlossausstattungen oder Adelsbibliotheken versteigert. Die neuen Bundeslaender quaelen sich aufgrund einer verfehlten Bundesgesetzgebung mit nach 1945 enteigneten Alteigentuemern, die nicht den Anstand besitzen, traditionelle Sammlungen als Geschichtsquellen zusammenzulassen. In diesem Monat wird saechsisches Kulturgut aus dem Haus Wettin von Sotheby's versteigert, und bei Reiss in Koenigstein kommen fruehneuzeitliche Handschriften und Buecher der ehemaligen Herzoglichen Oeffentlichen Bibliothek Meiningen unter den Hammer - gemeinsam mit den Resten einer fraenkischen und einer mecklenburgischen Adelsbibliothek. Vor wenigen Tagen wurde bei Christie's Inventar des oesterreichischen Schlosses Baumgarten versteigert. Es waren Familienportraets und Ausstattungsgegenstaende der Grafen von Lamberg dabei und ein bislang gaenzlich unbekanntes Memorialbild der Nuernberger bzw. fraenkischen Familie Wolf von Wolfstal aus dem Ausgang des Mittelalters, das als visueller Ausweis ihres "adeligen Herkommens" fungieren sollte. Abschliessend drei kulturpolitische Forderungen zur Erinnerungskultur unserer eigenen Gegenwart: Die Wissenschaft sollte erstens zu solchen Kulturgutverlusten nicht laenger schweigen und ihre Stimme erheben, wenn es um den Kulturgutschutz geht. Und sie sollte sich zweitens verstaerkt forschend mit dem in Privateigentum noch vorhandenen historischen Inventar auseinandersetzen, damit bei allen Beteiligten - Eigentuemern, Kunsthaendlern, Forschern, Denkmalaemtern, Ministerien - das Bewusstsein fuer den Wert dieser als beziehungsreichen Ensembles unersetzlichen Denkmaeler europaeischer Kulturgeschichte waechst. Drittens ist es geboten, in grossangelegten Datenbanken historische Provenienzdaten zusammenzufuehren, damit wenigstens virtuell wieder zusammenwaechst, was einst zusammengehoerte. Weiterfuehrende Aufsaetze im WWW: http://www.uni-koblenz.de/~graf/#erinn [copyright (c) by Dr. Klaus Graf]
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